12-09-2009
Woyzeck? War da nicht etwas mit Klaus Kinski? 1979 drehte Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle "Woyzeck" nach einem unvollendeten Drama von Georg Büchner. Und es gibt zwei Opern, welche den Stoff als Inhalt haben und immer wieder auf dem Spielplan der Theater stehen.
Nun bringt das Stadttheater Bern und ein paar Tage später das Luzerner Theater den Stoff als Musical, aufbereitet vom Autor und Regisseur Robert Wilson und dem Musiker Tom Waits. Premierentermin in Bern war der 12. September 2009. Das Musical hatte seine Uraufführung am 18. November 2000 im Betty Nansen Theatre in Kopenhagen.
Das Stück
Es gab ihn wirklich: Johann Christian Woyzeck, geboren 1780 in Leipzig, fand nach Jahren des Umherirrens als verabschiedeter preussischer Soldat in seiner Geburtsstadt ein Zimmer bei einer Witwe, die sich mit ihm einliess, aber gleichzeitig freizügigen Umgang mit allerlei Soldaten hatte. Am 2. Juni 1821 erstach Woyzeck seine Geliebte. Der Fall wurde durch zahlreiche medizinische Gutachten berühmt, die Büchner als junger Medizinstudent in der Bibliothek seines Vaters las.
Als er 1837 mit nur 23 Jahren starb, hatte er mit seinem Drama Dantons Tod die Literatur längst revolutioniert, doch sein Woyzeck, geschrieben ein Jahr vor seinem Tod, blieb ein «Fragment in Prosa» - kurze Szenen, die ein Blitzlichtgewitter auf das Leben eines verlorenen Menschen werfen.
Nach The Black Rider und Alice haben sich Robert Wilson und Tom Waits erneut eines grossen Stoffes der europäischen Kultur angenommen. Für ihre Bühnenfassung hat Tom Waits zu Büchners Originaltext eine gleichermassen brutale wie sensible Musik geschrieben, in der aggressive Rhythmik und romantische Melodien das Leid von Büchners Figuren spiegeln. Die Songs mit dem typischen Waits-Sound aus Jahrmarktsmusik, traurigen Walzern und melodiösen Balladen greifen die Stimmung einzelner Szenen auf und verstärken, was Büchner von den verzweifelten Lebensumständen der «armen Leut'» erzählt.
(Text Stadttheater Bern)
Kommentar des Fotografen
In den Vidmarhallen ist man nahe am Geschehen. Die Zuschauerränge gehen bis kurz vor die Bühne und man schaut auf das Geschehen hinab und hinein. Gerade als Fotograf schätze ich es, wenn ich an den Bühnenrand stehen kann und auf Augenhöhe der Darsteller bin.
Die Handlung ist abstrakt und das Bühnenbild besteht aus einer grossen Sperrholzschachtel, wovon bei Beginn die vorderste Wand eingeklappt wird und so den Blick in das Innere frei gibt.
Ansonsten bin ich nicht Fan von abstrakten Bühnenbildern, hier ist aber das Spiel der Darsteller so faszinierend und das Licht abwechslungsreich, dass es einem in das Geschehen hinein zieht und das karge Bühnenbild (im Vergleich zu sonstigen Musicals) die Handlung unterstützt und nicht behindert. Die Schachtel zeigt die Enge, worin sich jeder einzelne bewegt. Einzig der Narr und der Knabe brechen aus der Schachtel aus oder finden unter der Treppe zum Podest einen Unterschlupf. Jeder ist durch seine Natur getrieben und kann nicht daraus ausbrechen. Jeder klammert sich an das, was er hat, und sei es nur eine Putzbürste. Woyzeck dient dem Hauptmann als Arbeiter, dem Doktor als Versuchskaninchen in einem Langzeitversuch und Marie, seine Frau, betrügt ihn mit dem körperlich wie materiell überlegenen Tambourmajor. Anne Weinknecht spielt die Marie, dass ihr Feuer überspringt und es verständlich ist, warum der Tambourmajor sie begehrt. Und das Motiv, warum Woyzeck schlussendlich Marie umbringt, wird sehr schön herausgearbeitet und nicht nur auf die Eifersucht reduziert.
Durch die schauspielerische Leistung der Darsteller, die Mimik und Handlung wird klar, warum das Theater Bern das Musical als Schauspiel listet. Vielfach ist in den Köpfen der (schweizerischen) Zuschauer, das ein Musical etwas fröhliches und eher leichte Kost ist und ein Schauspiel eher anspruchsvoll und dramatisch. Und Woyzeck ist Zweiteres. Die Inszenierung ist nichts für schwache Nerven. Wer Blut auf der Bühne nicht sehen kann, sollte nicht hingehen, wobei es hier in der Handlung integriert ist, dazu gehört und nicht der Effekthascherei dient.
Der Text wird deutsch gesprochen und die Songs sind in Englisch. Die Musik finde ich genial. Ich bin vielleicht auch nicht representativ, mag ich doch die Musik von Tom Waits, speziell aus den früheren Jahren bis Ende der 80er, danach sind mir seine Studioalben häufig zu gut und perfekt produziert. Live auf der Bühne in Bern spielt die 5 köpfige Band so schräg und doch passend, das es eine Freude ist. Am Schluss bleiben neben den eindrücklichen Bildern die Songs wie "Misery Is The River Of The World" oder "It's Just The Way We Are Boys" im Kopf hängen.
Nach dem Stück von Georg Büchner.
Songs und Liedtexte von Tom Waits und Kathleen Brennan
Konzept von Robert Wilson
Textfassung von Ann-Christin Rommen und Wolfgang Wiens
Deutsch mit englischen Liedtexten
Besetzung
Musikalische Leitung: Michael Frei
Inszenierung: Matthias Kaschig
Bühne: Michael Böhler
Kostüme: Stefani Klie
Darsteller
Woyzeck: Diego Valsecchi
Marie: Anne Weinknecht
Tambourmajor: Sebastian Edtbauer
Trompeter: Jonathan Loosli
Hauptmann: Ernst C. Sigrist
Doktor: Henriette Cejpek
Margreth: Marianne Hamre
Andres: Heiner Take
Narr: Stefano Wenk
Maries Kind: Marius Morf
Musiker
Michael Tüller (Gitarren, Keyboard, singende Saäge, Bluesharp, Banjo)
Thierry Perroud (Klarinetten)
Mich Gerber (Bass)
Kathrin Bögli (Cello)
Fabian Bürgi/Kevin Chesham (Schlagzeug)
Erbsen?
Im Stück von Büchner kommen Erbsen vor und in der Aufführung des Musicals wird auch mit ihnen geworfen. Warum?
Woyzeck hört immer wieder Stimmen, welche eine Schizophrenie zeigen. Unterstützt wird seine Krankheit durch den Vertrag mit dem Arzt, welcher statt Woyzeck zu heilen ihn ermahnt, er solle seine extrem einseitige Ernährung (Erbsen-Diät) beibehalten. Dies, um die Mangelerscheinungen zu verschlimmern. Sein selbstsüchtiges Motiv ist der Erfolg seiner wissenschaftlichen Arbeit, deren Ergebnisse möglichst deutlich erkennbar sein sollen.
Zu der Zeit, als Büchner das Drama schrieb, wurden Versuche an Personen gemacht, welche die Tauglichkeit von Gelatine als Nahrungsmittel prüften. Sie sollte in Armenhäusern und im Militär eingesetzt werden, um Kosten zu sparen. Der Versuch lief 90 Tage und es wurde nebst Gelatine nur Erbsen gereicht.
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